Kategorie: Formel1 01.01.1970
Interview mit Mario Theissen
München/Hinwil. Vor exakt einem Jahr, am 22. Juni 2005, gab BMW in
München den Kauf der Mehrheitsanteile von Sauber bekannt. Für BMW Motorspot
Direktor Mario Theissen Gelegenheit für eine Zwischenbilanz.
- Hand aufs Herz: Wie oft haben Sie gezweifelt, ob der Schritt zum eigenen Team
der richtige war?
„Zu keiner Sekunde. Es war die einzig richtige Entscheidung. Der Schritt, mit
einem von BMW geführten Team anzutreten, basierte auf verschiedenen
Erkenntnissen, die wir in unserer Zeit als Motorenpartner gewonnen haben. Ein
Aspekt ist, dass die Bedeutung des Motors als Erfolgsfaktor generell etwas
zurückgegangen ist. Vor allem aber waren und sind wir überzeugt davon, dass
Erfolg nur über durchgängige Strukturen zu erreichen ist. Die Vernetzung der
Standorte München und Hinwil über ein gemeinsames Projektmanagement funktioniert
mittlerweile schon recht gut. Ich bin froh, dass wir diesen konsequenten Schritt
zur Gesamtverantwortung gegangen sind. Das heißt freilich nicht, dass man das
Wie nicht ständig hinterfragt. Wir sind nach wie vor im Aufbau.“
- Wie sieht Ihre Zwischenbilanz nach acht Rennen aus?
„Sehr erfreulich. Wir haben in sechs von acht GP Punkte geholt und sind zwei Mal
mit beiden Autos in die Punkte gefahren. Vor allem das Rennen in Silverstone war
ein echter Erfolg für uns. In England waren wir am gesamten Wochenende vierte
Kraft im Feld. Wir haben uns im Qualifying mit beiden BMW Sauber F1.06
problemlos für die Top Ten qualifiziert, im Rennen nicht von Ausfällen anderer
profitiert und die Plätze sieben und acht belegt. Von der Ausgangsposition des
vergangenen Jahres ist das ein klarer Sprung nach vorn.“
- Abgesehen von den Resultaten. Sind Sie mit den Fortschritten des Teams
zufrieden?
„Ein Formel-1-Team auf die Beine zu stellen, ist nie einfach. Auch wenn man auf
die Ressourcen eines Automobilherstellers und auf die bereits bestehende
Infrastruktur eines Teams zurückgreifen kann. Wir befinden uns mitten in einer
zweijährigen Aufbauphase. Ich ziehe den Hut vor dem, was die gesamte Mannschaft
in München und Hinwil in den vergangenen Monaten geleistet hat. Sie hat
praktisch rund um die Uhr gearbeitet. Wir haben zunächst die Arbeiten in München
und Hinwil miteinander vernetzt, dann ein Programm für die Zukunft aufgestellt
und die dafür notwendigen Aufbau-Maßnahmen eingeleitet. Für die Wintertests
wurde ein Interimsauto auf die Räder gestellt, die Fahrer verpflichtet, Verträge
mit vier großen Partnern realisiert und ein eigenständiges Testteam aufgebaut.
Fast 70 neue Mitarbeiter haben wir bereits an Bord, weitere werden nach und nach
folgen.“
- Kann die Aerodynamikabteilung schon mit den großen Teams mithalten?
„Was den Windkanal selbst angeht, ist die Anlage in Hinwil exzellent. Eine der
besten, wenn nicht die beste überhaupt. Allerdings hat die Personalkapazität
früher nur zu einem Einschichtbetrieb gereicht. Die Top-Teams nutzen ihre
Anlagen rund um die Uhr, das ist Standard. Seit Januar sind wir immerhin in der
Lage, in zwei Schichten zu arbeiten. Bis Jahresende soll auch bei uns der
Drei-Schicht-Betrieb Realität sein. Die Steigerung des Entwicklungstempos trägt
Früchte. Wir haben uns vorgenommen, zu jedem GP Verbesserungen in Form von
erprobten Neuteilen parat zu haben. Das gelingt uns fast immer. Sehr erfreulich
ist die gute Korrelation zwischen Simulation, Windkanal-Versuch und dem Einsatz
auf der Rennstrecke.“
- Sie wollen in Hinwil nicht nur personell, sondern auch räumlich erweitern?
„Ja, die Baugenehmigung für die Erweiterung liegt bereits vor. Der Neubau
soll Ende nächsten Jahres abgeschlossen sein. Dort finden sowohl Büros als auch
technische Einrichtungen Platz. Alle diese Maßnahmen laufen natürlich parallel
zu Renn- und Testeinsatz. Für das Team bedeutet dies in 2006 und 2007 einen
extremen Kraftakt.“
- Wie steht es um Zielvorgaben für die zweite Halbzeit 2006?
„Wir hatten uns für unser Debütjahr vorgenommen, den Rückstand von 1,5 Sekunden
pro Runde, den die Sauber-Fahrzeuge 2005 auf die Spitze hatten, zu halbieren und
den achten Platz der Konstrukteurs-WM zu verbessern. Das bleiben unsere Ziele
für 2006. Wir liegen gut auf Kurs, sie zu erreichen. “
- Das BMW Sauber F1 Team liegt derzeit auf Rang fünf in der Konstrukteurs-WM, ist
jetzt sogar noch der vierte Platz in Reichweite?
„Wir sollten die Kirche im Dorf lassen. Natürlich orientiert man sich immer an
den Teams, die vor einem liegen und schaut nicht zurück. Aber wenn wir Platz
fünf bis zum Saisonende verteidigen können, haben wir ein erstes Etappenziel
erreicht.“
- In der Rangliste der Zuverlässigkeit liegt nur Weltmeister Renault vor dem BMW
Sauber F1 Team. Wie ist das gelungen?
„Besonders wenn man all die Herausforderungen des Aufbaus und der Integration zu
bewältigen hat, hat die Zuverlässigkeit absolute Priorität. Anstatt auf
beeindruckende Einzelleistungen zu schielen, muss man erstmal die Prozesse in
den Griff bekommen und Rennwochenenden möglichst ohne Zwischen- und Ausfälle
absolvieren. Das produziert die meisten Ergebnisse, auf denen man aufbauen kann.
Aber auch wir hatten Ausfälle und Defekte. Dabei hat sich ein weiterer
erfreulicher Aspekt herausgestellt: Wir sind bereits in der Lage, kurzfristig
mit Problemen umzugehen. Das war ganz besonders in Monaco wichtig, wo uns
tagelang ein Elektronikproblem verfolgt hat.“
- Wie gelingt die Integration der Standorte München und Hinwil im Alltag?
„Von Anfang an war offensichtlich, dass unsere Arbeits- und Denkweisen
kompatibel sind. Das Potenzial der gemeinsamen Neuausrichtung liegt im
Zusammenführen des Technologie-Know-hows von BMW mit der Effizienz und
Rennerfahrung des Teams Sauber. Es gilt, diese bislang unabhängigen Aktivitäten
zu einem integrierten Team zu verschmelzen. Danach muss diese Basis so ausgebaut
werden, dass daraus ein Top-Team entsteht. Es ist ein langer Weg, aber es gibt
keine Abkürzung zu unserem Ziel. Das Wichtigste im Alltag ist eine
funktionierende Kommunikation. Diese ist aufgrund der überschaubaren Entfernung
und modernen Kommunikationsmitteln wie Datenübertragung, Telefon- und
Videokonferenzen darstellbar.“
- Wie oft sind Sie persönlich in Hinwil? Wie reisen Sie hin und her?
„Ich bin normalerweise ein bis zwei Tage pro Woche in meinem Büro in Hinwil. Der
persönliche Austausch auch außerhalb der GP-Wochenenden ist wichtig. Die Fahrt
dauert knapp drei Stunden. Natürlich fahre ich mit dem Auto, und das nach wie
vor gern, so lange es sich um einen BMW handelt. Dank Freisprecheinrichtung
lassen sich unterwegs auch noch einige Telefonate mit etwas weniger Zeitdruck
erledigen. Mein Haupt-Büro ist weiterhin in München, wo ich ja auch für die
anderen Projekte von BMW Motorsport verantwortlich bin. Wir wollen unseren
Weltmeistertitel im Tourenwagensport 2006 verteidigen und den Erfolg der vier
Formel BMW Serien in Deutschland, Asien, Amerika und UK weiter ausbauen.“
- Wie kommen Sie persönlich mit der Doppelbelastung als BMW Motorsport Direktor
und Teamchef zurecht?
„Nun, der Tag hatte vorher 24 Stunden und die hat er immer noch – es ist immer
eine Frage der Priorisierung und wie man die Arbeit organisiert.“
- Wie beurteilen Sie die Wettbewerbsverhältnisse in der Formel 1-Saison 2006
generell?
„Wir haben eine Situation, die so noch nie da war. Teams und Autos sind sehr
ausgeglichen und liegen extrem dicht beieinander. Mich überrascht diese
Leistungsdichte. Niemand kann sich sicher fühlen, den letzten Durchgang des
Qualifyings zu erreichen. Alle Teams müssen sich darauf einstellen, dass der
Kampf um die Top Ten sehr interessant bleibt. Da ist sehr viel Spannung
geboten.“
- Wie sehen Sie denn die Zukunft der Formel 1?
„Auf der kommerziellen Seite gibt es eine Verständigung zwischen Teams,
Herstellern und den Rechteinhabern. Auf dieser Basis soll in den nächsten Wochen
ein neues Concorde-Agreement formuliert werden. Gleichzeitig hat die FIA Ihre
Vision von der langfristigen Entwicklung der technischen und sportlichen
Ausrichtung vorgelegt. Wenn auch auf diesem Sektor die verschiedenen Interessen
unter einen Hut gebracht werden können, hat die Formel 1 alle Voraussetzungen
für eine sehr erfolgreiche Zukunft.“
- Wie beurteilen Sie die Leistung Ihrer drei Piloten?
„Wir sind sehr zufrieden mit unserer Fahrerbesetzung. Nick Heidfeld hält, was
wir uns von ihm versprochen haben. Er ist auf der Strecke stark und beteiligt
sich wie erwartet gut an der Entwicklung des Fahrzeugs. Jacques Villeneuve
übertrifft die Prognosen seiner Kritiker. Er ist hoch motiviert und wieder in
Topform. Das freut mich sehr. In unserem Test- und Ersatzfahrer Robert Kubica
haben wir einen Rohdiamanten. Ich weiß, dass es ein Risiko war, eine so junge
und unerfahrene Person als dritten Fahrer zu nehmen. Insofern sind wir mit
seinen Leistungen und seiner Entwicklung sehr zufrieden. Wir erwarten, dass er
diesen Weg weitergeht. Ich bin sicher, dass er eine Zukunft in der Formel 1 hat.
Er ist aber noch sehr jung, und man muss ihm Zeit geben.“
- Welche Piloten werden 2007 für das BMW Sauber F1 Team fahren?
„Wir werden auch 2007 mit starken Piloten am Start sein. Eine Entscheidung wird
aber zu Saisonende fallen.“
Quelle: BMW Presse-Mitteilung vom 22.06.2006
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